Zelten ist Selbstfindung auf eine ganz besondere, primitive Art: Man lernt nicht nur sich selbst kennen (und besonders auch riechen), sondern auch vollkommen fremde Menschen, während man alkoholisiert in irgendeinem Zelt sitzt, sich fragt, wie man dort hin kam und nun fremden Personen lauscht, die genau das gleiche Schicksal teilen.
Weil der Regen endlich aufgehört hat und der Wind nur noch alle paar Sekunden sanft gegen den Kunststoff pustet, sitze ich ungesehen, ganz alleine in meiner kleinen Koje mitten im Schlamm, umgeben von anderen matschigen Zelten mit ebenso matschigen Campern. Über den umfunktionierten Flugplatz schallt nun ein hohler Bass von der Festivalbühne, vorbei an Dixiklos und Grölen der Festivalgemeinde. Und genau in diesem Moment wird mir klar, dass je mehr wir uns verstecken, desto offener wir werden. Weil nur ein paar Lagen Zeltplane zwischen uns liegen, werden auf einmal Dinge erzählt, die ich sonst nie erfahren hatte. Nein, nichts weltbewegendes. Aber das irgendeine Tine doch tatsächlich etwas mit Martin hatte. Zeltplatzbeobachtung #1. In dieser Nacht mache ich auch die Erfahrung, dass – Achtung, Überraschung! – man nicht mit alkoholisierten Personen diskutieren kann: Zeltplatzbeobachtung #2. Anstatt kochendes Wasser in den Becher meiner Fertig-Ramensuppe zu schütten, waren sich die Kumpanen hundertprozentig einig, dass es viel einfacher werde, den Becherinhalt in einen Topf zu schütten und dann mit Wasser zu übergießen. Leider besaß der Topf für den festen Block an chinesischen Nudeln eine viel zu große Oberfläche und so standen wir im Winde der dunkelsten Nacht, eine Person den Gaskocher haltend, eine andere den Topf, während ich mit Plastikmesser von Tupperware ® den festen Block aus Nudelmasse attackiere. Fünf Minuten später und wir festen zu dritt an scharfer Suppenbrühe mit knusprigen Ramennudeln. Ein Erfolgsrezept.
Überhaupt hat sich der kulinarische Anspruch innerhalb der drei Tage auf dem Musikschutzgebiet erheblich zurückgeschraubt. Wie sich festgestellt hat, waren die 10 Minuten Proviantsuche beim Packen nicht so ausreichened: Zwei Jahre altes Pitabrot, Hot & Spicy Ramen, Thai-Curry-Fertigsuppe, Kochkäse und ein halbes Dutzend Pfannkuchen von Mama. Ich erinnere mich an ein Hungergefühl nach dem Aufwachen Sonntag Mittag, das Wasser ist alle, wir leben von Bier, Spirituosen und Mineralwasser. Meine Möglichkeiten abwägend entscheide ich mich für eine Thai-Curry-Suppe von Maggi mit Mineralwasser. Für heißes Wasser war es im Vorzelt zu schlammig und ich zu faul – das Resultat: Die selbst richtig zubereitete Thai-Curry-Suppe schmeckt schon bescheiden, an dieser Stelle benutze der Leser Fantasie und stelle sich das mit kaltem Mineralwasser vor. Ein kulinarisches Erlebnis der ganz besonderen Art. Aber das macht nichts, schließlich kann man die Essensreste ganz bequem ins Vorzelt zwischen Rucksäcken und Gummistiefel schütten, ist ja eh alles schon matschig. Und wenn ein bisschen Suppe noch in den Gummistiefel geraten sollte, dann macht das auch keinen Unterschied mehr. Hier ist man abgehärtet – da machen einem die Toiletten am dritten Tag auch keine Panik mehr. Drauf und durch – Zeltplatzbeobachtung #3.
Das Musikschutzgebiet kann also in Sachen „Festivalfeeling“ schon mit den ganz Großen mithalten. Toiletten-Situation und Feierlaune wie man das erwartet, Musik zum Abgehen und Alkohol zum Abwinken. So mag man das. Auch musikalisch konkurriert das Musikschutzgebiet: Mit überregionalen Bands und Newcomern aus breitem musikalischen Spektrum trifft es genau den Geschmack. Seit 2004 wird jedes Jahr der Grünhof in der Nähe von Homberg (Efze) in eine Partymeile verwandelt. Dieses Mal am Start waren Lieblinge wie Milky Chance, Fullax, Chakuza und Wilhelm Tell Me. „Wir haben uns wieder durch weit über tausend Bewerbungen gehört und ein Line-up erstellt, das die Besucher von uns erwarten: große Namen treffen junge, motivierte Bands zahlreicher Genres“, sagt der Vorsitzende des Musikschutzgebiet e.V. Hubertus Nägel. „Aber es ist eben nicht nur das Musikprogramm, das unser Festival ausmacht. Es ist auch das MSG-Herzblut. Das zeigt sich im positiven Umgang der Gäste untereinander, den zahlreichen helfenden Händen oder der wunderschönen Location. Dieses Momentum wollen wir uns bewahren. So war trotz des starken Andrangs vom vergangenen Jahr völlig klar, dass wir das Festival nicht weiter vergrößern – für die Besucher und die entspannte Atmosphäre. Wir als Musikschutzgebiet e.V. verfolgen mit dem Festival ja keine kommerziellen Ziele.“
Selbst schüttender Regen und Winden von gefühlten 130 km/h konnten der guten Laune nichts anhaben. Auch in diesem Jahr war das Musikschutzgebiet Festival großes Kino, wir freuen uns auf nächstes Jahr. Dann vielleicht auch wieder mit Sonne und weniger Matsch, aber hoffentlich mit ebenso gelungenem Line-up.