Lisa Neumann
Geschichte. Schüler verbinden mit der Auseinandersetzung mit der Historie zumeist eins: Fakten und Daten. Dass es jedoch vor allem um gesellschaftliche Zusammenhänge geht, wird oftmals vernachlässigt.
Wie interessant das individuelle Schicksal eines Menschenlebens in der Historie sein kann, zeigte Werner Dreyer, der im Rahmen des Bettina-von-Arnim-Forums einen Vortrag zu seinem autobiographischen Buch „Hilflos ausgeliefert — In den Klauen des sowjetischen Geheimdienstes und des Staatssicherheitsdienstes der DDR“ hielt. Dieses erschien 2007 im Verlag „Edition Fischer“ und beschreibt detailliert seine Erinnerungen: die Plage der Ungewissheit während der Haft, die Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal, das damalige Alltagsleben in der Ostzone und die Momente tiefer Verbundenheit mit den Mitgefangenen.
In Pommern geboren, lebte Werner Dreyer nach der Flucht und Vertreibung schließlich gemeinsam mit seiner Mutter auf der Ostseeinsel Rügen. Vater und Bruder waren beide in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Nur seinen Bruder sollte er später wiedersehen. Als junger Mann im Alter von 18 Jahren verfolgte er mit Interesse die Teilung Berlins. Gemeinsam mit einem Schulfreund besuchte er oftmals die westliche Seite der Großstadt, solange dies noch möglich war. In der Schule teilte er die mitgebrachten Westzeitungen gern mit seinen Klassenkameraden. Berlin, der Westen — eine andere, ferne Welt der Freiheit, nach der er wie so viele seiner Altersgenossen Sehnsucht verspürte.
1945. Ein Jahr, das für Werner Dreyer zum Schicksalsjahr werden sollte. Zwei Volkspolizisten, die an der Wohnungstür klingelten, ihn zum Mitkommen aufforderten, mit der Begründung man benötige eine Zeugenaussage. Zeugenaussage? Ziemlich schnell bemerkte Werner Dreyer, dass es sich bei dem folgenden Verhör auf der Polizeizentrale um etwas ganz anderes handelte. Die Beschuldigung: „Antisozialistisches Verhalten und Zugehörigkeit zu einer illgalen Organisation.“ Wegen seiner Berlinbesuchen, dem Mitbringen westlicher Zeitungen wurde er der Spionage verdächtigt. Was nun folgte kam einem Albtraum gleich: unzählige weitere Verhöre, Druckausübung mit Sätzen wie „Wir verfügen über Mittel, Sie zum Reden zu bringen.“, zwei Transporte, deren Ziel ihm jeweils unbekannt war.
Vorläufige Endstation: der Justizpalast in Schwerin. In den kommenden Wochen wartet Werner Dreyer mit seinen drei Mitgefangenen in der winzigen Zelle auf die Verurteilung. Die Gefangenen haben Wege der Verständigung gefunden: im gesamten Zellenbereich herrscht ein Klopfsystem, unausgesprochene Worte, die trotz aller Vorkehrungen zur Isolation durch Wände dringen.
Der finale Urteilsspruch des sowjetischen Militärtribunals? Zuerst Todesstrafe. Dann Revision wegen Jugend. Stattdessen: 25 Jahre Arbeitslager.
Werner Dreyer hat unglaubliches Glück gehabt. Seine Gefangenschaft endete dank der ersten Annäherung von West und Ost bereits 1954. Er kann mit offizieller Genehmigung in den Westen gelangen.
Heute ist Dreyer 85 Jahre alt. Das Alter merkt man ihm jedoch kaum an. Wenn er erzählt, sind seine Gestik und Mimik auffallend lebendig. Die Erinnerungen, das kafkaeske Gefühl des Ausgeliefertseins an eine höhere Macht, die Furcht vor der Ungewissheit — all dies wirkt, wenn er davon berichtet, so anschaulich, als wäre es gestern gewesen.
Die Schüler, welche den Mauerfall und die vorherige Teilung Deutschlands lediglich aus den Geschichtsbüchern kennen, erhielten durch Dreyers Erzählungen einen Einblick in das autoritäre Staatssystem der DDR. Auch wenn die Zeit der DDR mittlerweile zum Glück der Vergangenheit angehört, sollte sie nicht in Vergessenheit geraten.
Lisa Neumann