Es war stockduster und der Wind pfiff um meine Ohren, als ich alleine durch die Straßen ging. Ich versuchte zu verstehen, dass ich nun nicht mehr die einzige im Leben meiner Eltern bin. Vor zwei Monaten bekam ich eine Schwester namens Mona. Und sie veränderte mein ganzes Leben. Morgens sprachen meine Eltern nicht mehr mit mir, weil sie nur noch Augen für meine Schwester hatten. Sobald ich aus der Schule kam, zwangen sie mich alle Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Was ich sonst machte, war ihnen völlig egal, weil sich alles nur noch um Mona drehte.
Ich versuchte mich mit meinen Freunden abzulenken, aber auch sie gaben mir kaum Aufmerksamkeit. Sie sagten zu mir, dass ich, wenn ich dazu gehören wolle, ihnen eine Sache besorgen müsse. Da ich so verzweifelt war, aber nicht genügend Geld hatte, beschloss ich, es zu klauen. Doch als ich das Geschäft fluchtartig verlassen wollte, bemerkte ich, dass mich jemand verfolgte. Es war mein ehemaliger bester Freund Benjamin, der mich vom Klauen abhalten wollte. Aber ich beachtete ihn nicht und ging an ihm vorbei zum Ausgang.
Ich entschied mich für meine Freunde. Nun hatte ich mich gerade aus dem Haus geschlichen und war auf dem Weg zu ihnen. Als ich Schritte hinter mir hörte, ignorierte ich es. Aber sie kamen immer näher und ich wurde immer schneller. Ich traute mich nicht mich umzudrehen. Selbst als ich um die Ecke lief, um ihn abzuschütteln, verfolgte er mich weiter und ich wurde immer unruhiger. Plötzlich wurde ich an der Schulter gepackt und nach hinten gezogen. Ich fiel hin und als die Person begann auf mich einzureden, merkte ich, dass ich die Stimme irgendwoher kannte. Im Licht einer Straßenlaterne erkannte ich Benjamins Gesicht. Er versuchte mich davon abzuhalten den geklauten Gegenstand zu meinen Freunden zu bringen. Doch irgendwas hatte mich in diesem Moment davon abgehalten, auf die gute Seite zu treten und mich von meinen Freunden abzuwenden. Ich riss mich von ihm los und seine Reaktion war anders als ich gedacht hatte. Er ließ mich einfach gehen. Obwohl mein Herz sagte, dass ich bleiben sollte, überzeugte mich mein Bauchgefühl davon, wegzurennen. Also wandte ich mich von ihm ab und eilte, ohne ihn noch einmal anzusehen, zu dem Ort, an dem mich meine Freunde schon erwarten würden.
Als ich endlich am Treffpunkt angekommen war, standen sie alle dort wie bestellt und nicht abgeholt. Sie hatten schon eine Weile auf mich gewartet und guckten mich mit grimmigen Gesichtern an. Die Anführerin trat vor mich und sagte bestimmt: „Wo warst du? Warum hat das so lang gedauert? Gib uns sofort die Schachtel!“ Aber auf einmal zögerte ich, ob ich das wirklich tun sollte. Diesmal unterlag ich meinem Gewissen, deshalb entgegnete ich mit fester Stimme: „NEIN!!!“ Aber das war ein großer Fehler, denn plötzlich stürzten sich alle auf mich, um die Schachtel aus meiner Tasche zu reißen. Ich bekam große Angst und wünschte mir plötzlich nichts sehnlicher, als dass Benjamin an meiner Seite wäre, um mir zu helfen.
Als mich ein Schlag mitten ins Gesicht traf, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mir wurde klar, dass ich meinen Eltern und meiner Schwester unrecht getan hatte. Ich hatte einfach ein Problem damit gehabt, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Aber ich hatte dies zu spät eingesehen und mich auf meine sogenannten Freunde eingelassen, obwohl mir von Anfang an hätte bewusst sein müssen, dass sie nichts Gutes von mir wollten. Nicht mal auf Benjamin hatte ich gehört, denjenigen, den ich schon seit dem Kindergarten kannte, stattdessen hatte ich ihn zweimal abgewiesen und hing mit solchen Loosern ab. Dann stürzte ich auf den Boden und mir wurde schwarz vor den Augen.
Langsam öffneten sich meine Augen. Ich lag in einem weißen Raum. Bestimmt ein Krankenzimmer, dachte ich in diesem Moment. Da kam meine Mutter mit einem großen Blumenstrauß zur Tür hinein. Als sie bemerkte, dass ich wach war, seufzte sie erleichtert: „Oh Schatz, du hast eine Gehirnerschütterung. Aber mach dir keine Sorgen, alles wird gut!“ Sofort erwiderte ich mit aufgeregter Stimme: „Mama! Es tut mir so leid, was ich getan habe. Aber was ist mit Benjamin?“ Meine Mutter beruhigte mich. „Ihm geht es gut. Er hat gesehen, wie du k.o. geschlagen wurdest, anschließend hat er die anderen vertrieben und sofort einen Krankenwagen gerufen.“ „Mein Held!“, seufzte ich. „Kann ich zu ihm?“ Plötzlich tauchte jemand hinter meiner Mutter auf — es war Benjamin! Er lief auf mein Bett zu und wir umarmten uns. „Danke, dass du mich gerettet hast. Es tut mir leid, ich hätte gleich auf dich hören sollen.“ Er antwortete: „Kein Problem. Aber es gibt eine Sache, die du noch tun musst, und zwar die Schachtel zurückbringen.“ „Ja, das mache ich, sobald ich wieder aus dem Krankenhaus draußen bin.“ Er lächelte mich an. „Hoffentlich ist das bald, denn deine kleine Schwester wartet auf dich.“ „Ich kann es kaum erwarten, Mona wiederzusehen.“
Ich freute mich so sehr, dass alles wieder gut war und hoffte, dass ich nie mehr an die falschen Leute geraten würde. Aber zum Glück waren Benjamin und meine Familie immer an meiner Seite.
„Shadows in Hamburg | 2013“ von Alexander Harbich lizensiert unter (CC BY-NC-ND 2.0)