„Hast du schon mal mit der Neuen geredet?“ „Nein, wieso?“ „Die ist komisch.“ „Du kennst sie doch noch gar nicht.“ „Trotzdem ist sie komisch. Schau dir doch einfach mal ihre Klamotten an. So wie die immer rumläuft…“ Schweigen. Musternde Blicke, als sie den Klassenraum betritt. „Na ja, vielleicht wirkt sie ein wenig verklemmt, aber eigentlich ist sie doch ganz sympathisch.“ „Echt?“ Erstaunter Gesichtsausdruck, hochgezogene Augenbrauen. „Da bist du vermutlich die Einzige, die das findet.“
Abmusternde Blicke, leises Getuschel, die ein oder andere Lästerattacke (auf dem Pausenhof), Gerüchte, die ebenso schnell aufkommen, wie sie verworfen werden… Die Gesellschaft scheint aus einem System voller permanenter Beurteilungen zu bestehen. Einerseits eine natürliche Eigenschaft, andererseits pure Oberflächlichkeit. Der Mensch ist oftmals ein einfältiges und manipulierbares Wesen, dessen Beurteilungsvermögen zwischen vorschnellen Ansichten und der halbwegs unbeeinflussten „eigenen Meinung“ schwankt, ein Wort, das oftmals nicht hält, was seine Bedeutung verspricht.
Schnell von einer Sache überzeugt zu sein, bedeutet leider nicht immer, auch über sie nachgedacht und nach reichlicher Reflexion selbst zu einer Schlussfolgerung gekommen zu sein, welche nicht vorschnell dem ersten Eindruck unterlag. Denn wo verschwimmen die Grenzen zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung, jene Schnittstelle, an der die Meinung Aller unbewusst zu der eigenen Auffassung wird? Das Individuum balanciert auf dem Hochseil. Passt es sich zu sehr an, landet es ebenso auf dem harten Boden der Manege und erntet die Lacher des Publikums, als wenn es seine Eigenart stets beibehält. Entweder man geht konform, oder versucht jene Beurteilungen auszubalancieren, welche einen ungewollt ins Schwanken geraten lassen. Beide Möglichkeiten sind lediglich durch eine dünne Linie voneinander getrennt, das Gedankenkarusell dreht sich munter weiter im Kreise, manchmal fällt es schwer, eine Entscheidung zu treffen und man springt wie ein bewegungsfreudiges Kind zwischen beiden Seiten hin und her, bis man dank seiner „eigenen Meinung“ verharrt und stehen bleibt. Zwischen Option A (Einzelgänger) und Option B („Everybody´s Darling“) wandelt man munter hin und her und bemerkt schnell, dass man selbst auf dem Mittelweg ins Stolpern gerät.
Einmal anhalten, ein kurzer Rundumblick, langsam weiterlaufen und schon wird der nächste Stein aus dem Weg geräumt oder umgangen, eine Alternative, die trotz der vermiedenen Konfrontation doch einigen Ärger erspart. Doch was geschieht, wenn der Stein zu groß wird, ein Umgehen der Situation mit einem Mal genauso unmöglich erscheint, wie das Bewegen des Felsbrockens selbst?
Immer wieder gibt es Menschen, die unter dem Erwartungsdruck der Gesellschaft leiden, den ständigen Beurteilungen nicht (mehr) gewachsen sind und aufgrund ihrer Eigenart ausgeschlossen und verachtet werden. Viele Beispiele hierfür finden sich nicht nur in der Literatur, in welcher das Individuum in der Gesellschaft scheitert, wenn nicht sogar zugrunde geht, sondern auch im realen Leben, wegen mangelnder Toleranz oder aus eigener Tat heraus sei einmal dahingestellt.
Also wieso nicht anhalten, zu seinen Ansichten stehen und einer in der Masse sein, der keineswegs Scheuklappen trägt und jegliches Urteil seiner Mitmenschen ausblendet, aber doch einen Weg aus der Furcht vor dem Nichtgefallen, der allzeit vorhandenen Anpassungsfreudgigkeit hinausgefunden hat?
Anmerkung: Der Dialog zu Beginn des Artikels beschreibt keine Person, sondern stellt lediglich ein fiktives Gespräch zwischen zwei Jugendlichen dar, die sich über eine neue (nicht real existierende!) Mitschülerin unterhalten.
Lisa Neumann, Q 2